Erfurt: Das Puzzle zum Olympia-Ticket

Dieser Moment gehört ihm ganz allein. Ungläubig wandern seine Auge auf die Anzeigetafel neben ihm. Erstaunt, erschrocken, erleichtert: In diesem Moment gleicht seine Gefühlswelt eine Achterbahnfahrt. Unwirklich, aber irgendwie doch realistisch. Jonathan Hilbert ist im April bei den Deutschen Meisterschaften in Frankfurt eine Zeit gegangen, die ihm das Tor zur Weltspitze und zu den Olympischen Spielen in Tokio geöffnet hat.

Er gewann den deutschen Meistertitel über 50 Kilometer in 3:43:44 Stunden. Im Ziel fällt er dem Geher-Bundestrainer mit feuchten Augen in die Arme. Auf dem Weg zum Erfolg ist der gebürtige Hildburghäuser Ronald Weigel ein Puzzleteil von vielen.

Familie gibt  Rückenwind in Frankfurt/Main

Jonathan Hilbert beschreibt den Erfolg im Nachgang nicht als großes Puzzle, er nimmt stattdessen ein Schloss, welches Stein für Stein von vielen zusammen aufgebaut wird. „So was ist Teamwork“, sagt der 26-Jährige, der für die LG Ohra Energie startet. Und Teamwork besteht eben aus zahlreichen kleinen Rädchen, die im entscheidenden Moment greifen sollen. Wie bei Jonathan Hilbert am 10. April in Frankfurt. Da ist die Familie und Freundin Anna.

Noch ganz frisch ist ihre Liebe. Sie lebt in Leipzig, studiert und ist ehemalige Leistungssportlerin. Laufen ist ihr Element. Am Wettkampftag von Jonathan zeigte sie großen Einsatz, fuhr erst mit dem Zug nach Eisenach zu seinen Eltern, um dann mit ihnen nach Frankfurt aufzubrechen. „Das muss Liebe sein. Bei ihr fühle ich mich angekommen. Als ehemalige Leistungssportlerin weiß sie, was es bedeutet, Ziele zu haben. Es passt einfach und wir ergänzen uns", findet er liebevolle Worte für seine Anna.

Und auf ihre Unterstützung wie auch die seiner Eltern konnte er in Frankfurt zählen. Einen Tag zuvor hatte Jonathan Hilbert einen günstigen Platz zum Zuschauen ausgekundschaftet. Eine Brücke über dem Messegelände am Wendepunkt des 2-Kilometer-Rundkurses bot diese Möglichkeit. Sie standen dort, seine Liebsten und gaben ihm auf den 50 Kilometern gehörig Rückenwind. Nach dem Rennen begann die eigentliche Qual des Wartens. Außerhalb des Messegeländes, vor einem Drehkreuz. Nach einer gefühlten Ewigkeit konnte Jonathan Hilbert seine engsten vertrauten Menschen in die Arme schließen „Als ich Anna in die Arme gefallen bin, ist der ganze Druck, die ganze Last von mir abgefallen. Das war ein Moment, den ich sehr genossen habe.“ Ebenso wie danach die kleinen Belohnungen wie ein Burger oder das Ausschlafen.

Gelbe Klebezettel markieren seine Reise

Anna ist noch ganz frisch in seinem Leben. Mit Julia Zanev arbeitet er seit dreieinhalb Jahren zusammen. Sie ist Heilpraktikerin und Logopädin. Und sie tut Jonathan Hilbert ebenfalls gut. Sein Erfolg, davon ist er überzeugt, ist auch ein großer Teil auf das mentale Training zurückzuführen. So hat er beispielsweise auf seinem Handy und der Uhr die Olympischen Ringe tagtäglich vor Augen. Sein Traum, sein Ziel. „Das ist ein Erfolgsfaktor, wenn man seine Ziele visualisiert, um sie nicht zu vergessen. Man optimiert dann automatisch seine Handlungen“, berichtet der gebürtige Mühlhäuser.

Geholfen haben ihm ferner zahlreiche gelbe Klebezettel. Sie markierten seine Reise, jede Phase seines Rennens. Aufgeschrieben, an seine Wohnungstür gepappt und stets beim Verlassen der Wohnung vor Augen. Und für das Verinnerlichen nahm er sich regelmäßig die Zeit. „Das sind vier Minuten, wo ich mir die Zettel durchlese und das Geschriebene verinnerliche. Jedes Rennen erlebe ich so im Vorfeld durch. Auch die negativen Gedanken habe ich aufgeschrieben, versuche ihnen entgegenzuwirken und Lösungen zu finden. Vom Start bis zum Ziel habe ich alles aufgeschrieben.“ Und es hat funktioniert. Zu 99 Prozent sei alles eingetreten. Erstmals bei den Deutschen Meisterschaften 2018 in Aschersleben, wo er zum Meistertitel mit WM-Norm für Doha ging.

Er hat in dieser Zeit auch viel über sich selbst gelernt. Die Vergangenheit aufgearbeitet und Neues zugelassen. Das neue Ich wirkt selbstbewusster, in den Worten klarer. „Ich fühle wie ein anderer Mensch, empfinde mich als ein bessere Persönlichkeit, was sich auch auf den Sport überträgt. Ich bin überzeugter von mir selbst. Schaue auch nicht mehr so oft auf das, was die anderen machen, ich muss im Rennen mein Plan abrufen.“ Seinen Horizont erweitert hat er zudem bei der Ernährung, er isst ausgewogener und hört mehr in sich hinein, was tut ihm gut und womit fühlt er sich wohl.

Nun geht es bei ihm aber erst richtig los: Die Olympia-Qualifikation war erst der erste Schritt. Nun braucht es neue Ziele. „In dem Punkt befinde ich mich mit Julia noch in der Findungsphase. Es geht darum, was will ich in Sapporo erreichen. Es sollten realistische Ziele sein. Das ist eigentlich der spannendste Teil, den wir Ende April gemeinsam angegangen sind.“

Zwei Trainer als wichtige Stütze

Für das große Ganze braucht es auch Trainer. Zehn Jahre bereits an seiner Seite: Heimtrainer Petro Zaslavskyy, eine extrem wichtige Stütze auf seinem Weg. „Ich habe bei ihm mit dem Gehen begonnen. Er ist sozusagen immer noch mein erster Trainer, was das Gehen angeht. Er hat mir extrem viel beigebracht und mich im ganzen Prozess stets unterstützt. Auch wenn es Rückschläge gab, hat er mich versucht aufzubauen und es immer wieder geschafft. Was ich an ihm besonders schätze, dass wir insofern gut zusammenarbeiten können, dass ich mich sehr stark in die Trainingsplanung einbringen darf. Ich bin ihm für alles sehr dankbar.“

Sein zweiter Wegbegleiter ist Ronald Weigel. Der Bundestrainer begleitet ihn seit Herbst 2014 auf seiner Reise. „Er hat immer auf mich gezählt, mich unterstützt und gefördert. Auch wenn es mir mal nicht so gut ging wie nach Rückschlägen im Trainingsbereich mit Verletzungen und Krankheiten. Dafür bin ich ihm dankbar. Und ich hoffe, ich konnte ihm jetzt mit dieser Leistung etwas zurückgegeben.“ Auf dem Weg nach Tokio/Sapporo spielen für Jonathan Hilbert die Team-Europameisterschaften in Podebrady (Tschechien; 16. Mai) keine Rolle mehr. „Die 50 Kilometer sind für uns eine unheimlich mentale Anstrengung. Ein solcher Wettkampf vor den Spielen wäre nicht so gut.“

Ein Traum bleibt

In den Blickpunkt rückt stattdessen ein 20-Kilometer-Wettkampf Anfang Juni in Spanien. „Das wird dann eher ein Rennen aus dem Training heraus werden, um einen Wettkampfreiz zu setzen.“ Schließlich will er am 5. August bei seinem Olympia-Start die absolute Höchstform erreicht haben. Und das am liebsten mit Freund und Trainingspartner Karl Junghannß (Top Team Thüringen). Sie träumen gemeinsam von einem Start bei den Olympischen Spielen. Nach der DM gab es dann vier Normerfüller, Karl Junghannß muss jetzt um das dritte Ticket kämpfen.

Familie, Mentaltrainerin, Trainer, Trainingspartner, Freunde – sie alle ebneten seinen Weg. Ebenso wie sein Arbeitgeber die Thüringer Polizei, die Deutsche Sporthilfe als jahrelanger Förderer und der Deutsche Leichtathletik Verband. Das Schloss wäre nicht komplett ohne die Arbeit der Physiotherapeuten und Ärzte. So langsam schließt sich der Kreis derer, die den Traum von seinen ersten Spielen ermöglichten. Auf seinem Weg ist er eigentlich nie allein. Außer im Wettkampf, dann ist er nur bei sich und seinen nächsten Zielen. -sam-

Auf dem Weg nach Tokio - Beitrag MDR